Performance: NANECI YURDAGÜL
NANECI YURDAGÜL
BAVARIA BLU BOYSCLUB
PERFORMANCE
SAMSTAG, 14. September 2019, 14.00 – 15.30 Uhr
KNUST KUNZ Gallery Editions, Ludwigstrasse 7, München
Pünktlich zur angekündigten Uhrzeit der Performance BAVARIA BLU BOYSCLUB sind Martina Tauber und ich bei KNUST KUNZ Gallery Editions und tragen uns in „THE LIST“ ein, einer überdimensionalen Liste mit 6 Zeilen.
Unserer eigenen Pünktlichkeit entgegen kommt Naneci Yurdagül erst nach längerem Warten und der damit verbundenen Irritierung, mit einem knallpinken Anzug, hochgeklappten Motorradhelm und -mundbinde und einer sonderbaren Art des Mikrofons mit pinkem Flausch aus der Galerie. Mit weggetretenem Blick strebt er auf die stark befahrene Ludwigstraße zu, das Mikrofon vor sich, wie um etwas aufzunehmen. Das Mikrofon jedoch gibt durchgängig furchtbar enervierende Pfeiftöne von sich. Ich möchte mir die Ohren zuhalten. Ebenso möchte ich die Augen schließen, starre jedoch fasziniert Naneci Yurdagül nach. Er läuft nicht nur über den Fahrradweg sondern auch über die vierspurige Straße – wie unter bewusstseinsverändernden Substanzen, das Mikrofon vor sich, ohne Rücksicht zu nehmen auf andere Verkehrsteilnehmer. Den Motorradhelm nicht über dem Kopf sondern auf dem Kopf ist Naneci Yurdagül hier jedoch nicht Gefährder, sondern absolut Gefährdeter. Und wir alle schauen zu. Keiner der Besucher, die vor KNUST KUNZ stehen, greift ein.
Zurück vor der Galerietür schreit er uns an: „I AM MAHMUT (gesprochen „Mach Mut“)!“, streckt seinen Finger nacheinander auf drei Personen „YOU! YOU! and YOU! YOU’RE ON THE LIST! COME WITH ME!“. Martina und ich stehen genauso auf der Liste wie die drei anderen. Als ich versuche, mit den Anderen in die Galerie zu gehen, schreit mich Naneci Yurdagül an „YOU’RE NOT ON THE LIST!“ Das ist doch nicht richtig, das ist nicht fair – sagt meine innere Stimme. Aber ich bleibe draußen und warte. Nach etwa 15 Minuten wiederholt Yurdagül die Überquerung der Ludwigstraße. Nun gehören Martina und ich doch zur LIST und dürfen hinter dem Künstler in die Galerie gehen. Dort bekommen wir jeder eine Burka und werden von ihm anhand der Farben unserer Burka benannt: „RED“, „YELLOW“, „BLACK“, die Farben der Bundesrepublik.
Beim Rundgang durch die Galerie bekommen wir an mehreren Orten ein iPhone in die Hand, auf dem wir nacheinander mehrere Audiodateien hören. Darauf wiederholt Naneci Yurdagül in einer so weichen, berührenden und liebevollen Stimmlage (im höchsten Kontrast zu seinen aggressiven, dominanten Anweisungen) beispielsweise Mantra-ähnlich, dass es kein Zurückdrehen der Zeit gebe. „This is not 2019, this is 2054“. In den Galerieräumen sind neun Metronome verteilt, die in unterschiedlichem Takt schlagen. Überall in der Ausstellung sind großformatige blaue Plakate mit weißen Buchstaben installiert, deren Aussagen größtenteils durch die Segmentierung der Worte durch Sternchen zweideutig und widersprüchlich sind. Diese Fülle von Eindrücken ist für mich nicht zu bewältigen, ich bin stark irritiert.
Bis wir durch die Lagertür der Galerie treten, habe ich noch immer und trotz der Demütigung durch die übergriffigen Befehle und Anweisungen eine ironische Distanz zu Yurdagüls Performance. Sobald wir in das Lager treten ist es jedoch zuerst einmal so unangenehm still, eng und beklemmend. Direkt hinter der Tür steht eine strenge Frau mit grauem Pagenkopf, medizinischem Mundschutz und weißen Handschuhen, die uns mit einer Handbewegung anweist, weiter zu gehen. Hier sind es noch mehr Plakate als in den Galerieräumen, ich kann nur einen Bruchteil lesen und in seiner Zweideutigkeit verstehen. Ich fühle mich überfordert.
In einem weiß gekacheltem Raum vor den Toiletten der Galerie sitzt in gleißendem Neon-Licht eine nackte Frau mit langen, offenen Haaren auf einem Metallhocker. In ihren Armen liegt ein bis auf die Windel nacktes Baby und schläft an ihrer Brust. Der Frau läuft ein Träne über die Backe. Ich bin vollständig überfallen von dieser Präsenz und traue mich überhaupt nicht, wirklich hinzuschauen, weil ein Moment nicht intimer sein kann als dieser.
Wie werden durch einen schmalen Flur zu einer Feuertür geschoben und gelangen nach draußen in einen grauen Hinterhof.
(Text: Dr. Verena Hertz, 19. September 2019)